Fundstück 3:
Arbeitszeit, Unterkunft und Lohn der Müller
(nach Käppler), 1891/1892
In: Die Neue Zeit, Wochenschrift der Deutschen Sozialdemokratie (1883 – 1917): Revue des geistigen und öffentlichen Lebens. - 10.1891-92, 2. Bd.(1892), H. 29, S. 94 – 96
„[…] Literarische Rundschau
[…]. Müller
- Arbeitsverhältnisse der Müller Deutschlands. Nach statistischen Quellen bearbeitet von H. Käppler, Redakteur des "Fachblattes der Müller." Altenburg, Selbstverlag des Verfassers. 1891. 72 Seiten. Preis 60 Pfg. . […]
Die Veröffentlichung Käppler`s, des rührigen Vertreters der deutschen Mühlenarbeiter, hat mit Recht großes Aufsehen erregt; vielfach hat man sie mit Bebel`s Enquete über die Zustände in den Bäckereien verglichen; und in der That zieht sie den Schleier von ebenso scheußlichen Zuständen. Dabei bemerkt der Verfasser ausdrücklich, „daß sich seine Erhebungen zum größten Theil nur auf Länder und Provinzen erstrecken, welche noch verhältnismäßig die besten Arbeitsbedingungen in unserer Branche bieten; ich behaupte, daß eine genaue behördliche statistische Erhebung in den Provinzen Schlesien, Pommern, Ost- und Westpreußen, Posen und Mecklenburg Dinge und Verhältnisse zu Tage fördern wird, die in ganz Deutschland kein Mensch glauben wird, auch wenn sie amtlich veröffentlicht werden.“
Von 668 Betrieben, über welche Herr Käppler Mittheilungen zugegangen waren, hatten nur 82, also 12 Prozent, eine reguläre A r b e i t s z e i t von nicht mehr wie 12 Stunden; doch auch hier treten häufig Ueberstunden ein. 98 Betriebe nehmen ihre Arbeiter – Gesellen, Hilfsarbeiter wie Lehrlinge – täglich 14 Stunden in Anspruch; 79 Betriebe 15-16 Stunden; 804[1] Betriebe 17-18 Stunden; 52 Betriebe 19-20 Stunden. Aus 47 Betrieben wurde gemeldet, daß immer 36 Stunden hintereinander gearbeitet werde, während 5 Gesellen, welche in 4 Betrieben beschäftigt sind, angaben, daß sie oft 14 Tage oder 3 Wochen lang ohne Ablösung arbeiten und bei ihrer Arbeit essen und schlafen müssen. Nur 10 Prozent der Betriebe ruhen des S o n n t a g s vollständig; in 40 Betrieben wurde Sonntags 6 Stunden, in 103 Betrieben 7-12 Stunden, in 53 13-17 Stunden, in 351 18-24 Stunden gearbeitet; in 46 Betrieben füllt der ganze Sonntag nur einen Theil der 30- 36stündigen Arbeitsperiode aus. Alle 14 Tage giebt es vielfach einen freien Sonntag, das heißt: einige freie Nachmittagsstunden. „Auch die Müller l e h r l i n g e müssen, trotzdem sie noch Kinder sind, des Sonntags volle 24 Stunden lang arbeiten, und wie oft kommt es dann vor, daß Meister und auch charakterlose GBesellen auf den armen jungen herumpauken, wenn ihnen vor Mattigkeit die Augen zufallen… Wir behaupten, daß unere Müllerlehrlinge in sehr, sehr vielen Mühlen schlimmer daran sind als die Gesellen selbst. Ist es doch in den meisten Mühlen Usus, daß der Lehrling des Tags über auf dem Felde oder mit häuslichen Arbeiten beschäftigt wird; ist es doch in den meisten Mühlen Gebrauch, daß der Lehrling das Vieh füttern, die Ställe misten und andere Arbeiten verrichten muß, welche gar nicht in den Bereich seines Berufes gehören.“ Natürlich häufen sich die U n f ä l l e infolge der Erschöpfung der Arbeiter; das durchschnittliche Lebens a l t e r der Müllergesellen beträgt nach Käppler nur 35 Jahre. Der Durchschnittslohn betrug nach der Unfallberufsgenossenschafts-Statistik etwa 600 Mark; ein großer Theil davon wird jedoch in „K o s t u n d L o g i s“ verabreicht; über beide finden sich in den „Bemerkungen“ der Listen oft die derbsten Kritiken: „Logis ist ein Bretterverschlag in der Mühle, Geselle und Lehrling schlafen in einem Bette. … Zwei Mann haben ein Bett, nach diesem sieht das ganze Jahr Niemand; Bettwäsche ist für uns unnöthiger Luxus. … Logis ist ein Winkel, der mit Brettern versperrt ist. Ruhestätte ist ein Kasten mit Stroh und Decke und viel Ungeziefer. Bettwäsche giebt`s nicht. … Logis ist Stall, ruhestätte Bretterbucht mit Stroh und Lumpen. … Logis ist ein kellerartiger Raum mit vergittertem Fenster. … Zur Abwechslung bekommt der Geselle oftmals Prügel. … Für 5 Gesellen sind 2 Matratzen vorhanden. … Kein Logis, keine Betzten. Ein Sack Spreu als Lager; wenn man sich zudecken will, so besorgt man sich selbst etwas, gewöhnlich ein paar leere Säcke. … Flöhe haben wir in der Schlafstube soviel als Staub in der Mühle, weil jährlich nur zweimal gereinigt wird. … Die ‚Gesellen müssen das Bett abwechselnd benützen. … Logis verdient den Namen Dreckloch. …Schlafstelle besteht aus Strohsack und zerrissener Pferdedecke…“ u.s.f. u.s.f.
An statistischer Präzision lassen die Antworten der Mühlenarbeiter allerdings zu wünschen übrig – vielleicht lag das an der Art der Fragestellung; auch aus den oben mitgetheilten zahlen, die sich durch keine Zufügung ergänzt finden, wird der Leser das ersehen haben. Als erstere Versuch, über ein bisher ziemlich unbekanntes Gebiet des Arbeiterlebens Licht zu verbreiten und Anstoß zu Verbesserungen und zur Organisation der Arbeiter zu geben, ist die Käppler`sche Schrift jedoch sehr schätzenswert. […]"
Reinhard Tegtmeier-Blanck:
Umrechnung des Lohns auf heutige Kaufkraft-Verhältnisse
Der jährliche Durchschnittslohn in Goldmark (1871 – 1914) lag laut Käppler bei 600 Mark („1 Goldmark“ = 9,86 €), das entspricht einem heutigen Jahreslohn von ca. 6000 €, d. h. pro Monat käme eine Lohnsumme von ca.500 € zustande. Bei 18 Std. durchschnittlicher Arbeitszeit an 7 Tagen pro Woche ergibt sich eine Wochenarbeitszeit von 126 Std. Daraus folgt eine monatliche Arbeitszeit von ca. 500 Stunden und einem heutigen Stundenlohn von weniger als brutto 1 € pro Stunde.
Neben anderen Abzügen wurde der Lohn aber zum Teil mit Kost und Logis verrechnet, d. h. es blieb in der Regel kaum Bargeld übrig!
nach Wikipedia: Umrechnungshinweise (Kaufkraft) laut Hamburger Staatsarchiv und Statistischem Bundesamt (Quelle Fredrik Matthaei), URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Goldmark [Stand 29.2.2012, 12.00 h] und URL: http://fredriks.de/HVV/kaufkraft.htm [Stand: 203.2012, 19.00 Uhr]
[1] Im Originaltext steht die Zahl 804. Da Käppler aber nur über 668 Betriebe Informationen vorlagen, kann diese Zahl nicht stimmen (Druckfehler „8“ statt „3“?). Im Zusammenhang mit den anderen Zahlen wäre ein Wert von 304 Betrieben plausibel. Und dann ergeben sich auch wieder sinnvolle vergleichbare Daten zur Sonntagsarbeit.
(nach Käppler), 1891/1892
In: Die Neue Zeit, Wochenschrift der Deutschen Sozialdemokratie (1883 – 1917): Revue des geistigen und öffentlichen Lebens. - 10.1891-92, 2. Bd.(1892), H. 29, S. 94 – 96
„[…] Literarische Rundschau
[…]. Müller
- Arbeitsverhältnisse der Müller Deutschlands. Nach statistischen Quellen bearbeitet von H. Käppler, Redakteur des "Fachblattes der Müller." Altenburg, Selbstverlag des Verfassers. 1891. 72 Seiten. Preis 60 Pfg. . […]
Die Veröffentlichung Käppler`s, des rührigen Vertreters der deutschen Mühlenarbeiter, hat mit Recht großes Aufsehen erregt; vielfach hat man sie mit Bebel`s Enquete über die Zustände in den Bäckereien verglichen; und in der That zieht sie den Schleier von ebenso scheußlichen Zuständen. Dabei bemerkt der Verfasser ausdrücklich, „daß sich seine Erhebungen zum größten Theil nur auf Länder und Provinzen erstrecken, welche noch verhältnismäßig die besten Arbeitsbedingungen in unserer Branche bieten; ich behaupte, daß eine genaue behördliche statistische Erhebung in den Provinzen Schlesien, Pommern, Ost- und Westpreußen, Posen und Mecklenburg Dinge und Verhältnisse zu Tage fördern wird, die in ganz Deutschland kein Mensch glauben wird, auch wenn sie amtlich veröffentlicht werden.“
Von 668 Betrieben, über welche Herr Käppler Mittheilungen zugegangen waren, hatten nur 82, also 12 Prozent, eine reguläre A r b e i t s z e i t von nicht mehr wie 12 Stunden; doch auch hier treten häufig Ueberstunden ein. 98 Betriebe nehmen ihre Arbeiter – Gesellen, Hilfsarbeiter wie Lehrlinge – täglich 14 Stunden in Anspruch; 79 Betriebe 15-16 Stunden; 804[1] Betriebe 17-18 Stunden; 52 Betriebe 19-20 Stunden. Aus 47 Betrieben wurde gemeldet, daß immer 36 Stunden hintereinander gearbeitet werde, während 5 Gesellen, welche in 4 Betrieben beschäftigt sind, angaben, daß sie oft 14 Tage oder 3 Wochen lang ohne Ablösung arbeiten und bei ihrer Arbeit essen und schlafen müssen. Nur 10 Prozent der Betriebe ruhen des S o n n t a g s vollständig; in 40 Betrieben wurde Sonntags 6 Stunden, in 103 Betrieben 7-12 Stunden, in 53 13-17 Stunden, in 351 18-24 Stunden gearbeitet; in 46 Betrieben füllt der ganze Sonntag nur einen Theil der 30- 36stündigen Arbeitsperiode aus. Alle 14 Tage giebt es vielfach einen freien Sonntag, das heißt: einige freie Nachmittagsstunden. „Auch die Müller l e h r l i n g e müssen, trotzdem sie noch Kinder sind, des Sonntags volle 24 Stunden lang arbeiten, und wie oft kommt es dann vor, daß Meister und auch charakterlose GBesellen auf den armen jungen herumpauken, wenn ihnen vor Mattigkeit die Augen zufallen… Wir behaupten, daß unere Müllerlehrlinge in sehr, sehr vielen Mühlen schlimmer daran sind als die Gesellen selbst. Ist es doch in den meisten Mühlen Usus, daß der Lehrling des Tags über auf dem Felde oder mit häuslichen Arbeiten beschäftigt wird; ist es doch in den meisten Mühlen Gebrauch, daß der Lehrling das Vieh füttern, die Ställe misten und andere Arbeiten verrichten muß, welche gar nicht in den Bereich seines Berufes gehören.“ Natürlich häufen sich die U n f ä l l e infolge der Erschöpfung der Arbeiter; das durchschnittliche Lebens a l t e r der Müllergesellen beträgt nach Käppler nur 35 Jahre. Der Durchschnittslohn betrug nach der Unfallberufsgenossenschafts-Statistik etwa 600 Mark; ein großer Theil davon wird jedoch in „K o s t u n d L o g i s“ verabreicht; über beide finden sich in den „Bemerkungen“ der Listen oft die derbsten Kritiken: „Logis ist ein Bretterverschlag in der Mühle, Geselle und Lehrling schlafen in einem Bette. … Zwei Mann haben ein Bett, nach diesem sieht das ganze Jahr Niemand; Bettwäsche ist für uns unnöthiger Luxus. … Logis ist ein Winkel, der mit Brettern versperrt ist. Ruhestätte ist ein Kasten mit Stroh und Decke und viel Ungeziefer. Bettwäsche giebt`s nicht. … Logis ist Stall, ruhestätte Bretterbucht mit Stroh und Lumpen. … Logis ist ein kellerartiger Raum mit vergittertem Fenster. … Zur Abwechslung bekommt der Geselle oftmals Prügel. … Für 5 Gesellen sind 2 Matratzen vorhanden. … Kein Logis, keine Betzten. Ein Sack Spreu als Lager; wenn man sich zudecken will, so besorgt man sich selbst etwas, gewöhnlich ein paar leere Säcke. … Flöhe haben wir in der Schlafstube soviel als Staub in der Mühle, weil jährlich nur zweimal gereinigt wird. … Die ‚Gesellen müssen das Bett abwechselnd benützen. … Logis verdient den Namen Dreckloch. …Schlafstelle besteht aus Strohsack und zerrissener Pferdedecke…“ u.s.f. u.s.f.
An statistischer Präzision lassen die Antworten der Mühlenarbeiter allerdings zu wünschen übrig – vielleicht lag das an der Art der Fragestellung; auch aus den oben mitgetheilten zahlen, die sich durch keine Zufügung ergänzt finden, wird der Leser das ersehen haben. Als erstere Versuch, über ein bisher ziemlich unbekanntes Gebiet des Arbeiterlebens Licht zu verbreiten und Anstoß zu Verbesserungen und zur Organisation der Arbeiter zu geben, ist die Käppler`sche Schrift jedoch sehr schätzenswert. […]"
Reinhard Tegtmeier-Blanck:
Umrechnung des Lohns auf heutige Kaufkraft-Verhältnisse
Der jährliche Durchschnittslohn in Goldmark (1871 – 1914) lag laut Käppler bei 600 Mark („1 Goldmark“ = 9,86 €), das entspricht einem heutigen Jahreslohn von ca. 6000 €, d. h. pro Monat käme eine Lohnsumme von ca.500 € zustande. Bei 18 Std. durchschnittlicher Arbeitszeit an 7 Tagen pro Woche ergibt sich eine Wochenarbeitszeit von 126 Std. Daraus folgt eine monatliche Arbeitszeit von ca. 500 Stunden und einem heutigen Stundenlohn von weniger als brutto 1 € pro Stunde.
Neben anderen Abzügen wurde der Lohn aber zum Teil mit Kost und Logis verrechnet, d. h. es blieb in der Regel kaum Bargeld übrig!
nach Wikipedia: Umrechnungshinweise (Kaufkraft) laut Hamburger Staatsarchiv und Statistischem Bundesamt (Quelle Fredrik Matthaei), URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Goldmark [Stand 29.2.2012, 12.00 h] und URL: http://fredriks.de/HVV/kaufkraft.htm [Stand: 203.2012, 19.00 Uhr]
[1] Im Originaltext steht die Zahl 804. Da Käppler aber nur über 668 Betriebe Informationen vorlagen, kann diese Zahl nicht stimmen (Druckfehler „8“ statt „3“?). Im Zusammenhang mit den anderen Zahlen wäre ein Wert von 304 Betrieben plausibel. Und dann ergeben sich auch wieder sinnvolle vergleichbare Daten zur Sonntagsarbeit.